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    Suspended Time
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,5
    durchschnittlich
    Suspended Time

    So hätten die meisten von uns ihren Lockdown bestimmt auch gern verbracht

    Von Christoph Petersen

    Es gibt wahrscheinlich gar keinen guten Zeitpunkt für einen Lockdown-Film. Als die Kinos nach den langen Schließungen wieder ihre Tore öffneten, hatten die allerwenigsten Lust, sich jetzt auch noch auf der großen Leinwand mit den omnipräsenten Corona-Maßnahmen auseinanderzusetzen. Und nun, nicht mal drei Jahre nach dem Ende der stärksten Beschränkungen, wirkt ein Film wie „Suspended Time“ fast schon wie ein historisches Artefakt. Der französische Meisterregisseur Olivier Assayas („Carlos – Der Schakal“) verarbeitet in dem Berlinale-Wettbewerbsbeitrag seine persönlichen Lockdown-Erfahrungen im Haus seiner Kindheit – und das gleich doppelt:

    Zum einen gibt es immer wieder eingestreute Essay-Passagen, in denen wir menschenleere Zimmer, Gärten, Teiche oder Tennisplätze sehen, während der Regisseur selbst aus dem Off darüber sinniert, wie sehr sich diese Orte seit seiner Jugend verändert haben (oder eben auch nicht). Den Hauptteil aber nimmt eine Spielfilmhandlung ein: Zwei Brüder, der Regisseur Paul (Vincent Macaigne) und der Musikjournalist Etienne (Micha Lescot), verbringen den Lockdown gemeinsam mit ihren Freundinnen Morgane (Nine d'Urso) und Carole (Nora Hamzawi) im Haus ihrer verstorbenen Eltern. Da wird über Kunst genauso wie über die Auslegung der Social-Distancing-Regeln gestritten, während die ungeplante Atempause auch sonst jede Menge Raum zum Nachdenken eröffnet…

    Carole Bethuel
    Paul (Vincent Macaigne) nimmt das Social Distancing besonders ernst – und kriegt sich darüber immer wieder mit seinem Bruder in die Haare.

    Dass auch der „fiktive“ Teil von „Suspended Time“ starke autobiographische Züge trägt, liegt auf der Hand: Paul ist nicht nur Regisseur, er plant auch, Kristen Stewart als portugiesische Nonne in einem Historienfilm zu besetzen – eine klare Anspielung darauf, dass Olivier Assayas selbst sogar schon zwei Filme mit Stewart gedreht hat, das meisterhafte Melodram „Die Wolken von Sils Maria“ und den kaum minder meisterhaften Fashion-Geisterfilm „Personal Shopper“. Und auch im realen Leben hat Assayas einen jüngeren Bruder, der als Musikjournalist erfolgreich ist – ebenso wie eine Tochter, deren Sorgerecht er sich mit der inzwischen getrenntlebenden Mutter (nämlich der „Bergman Island“-Regisseurin Mia Hansen-Løve) teilt.

    Nur haben Erfahrungen, die wir während der Corona-Pandemie gemacht haben, häufig einen besonders starken Eindruck bei uns hinterlassen – es war eben eine absolute Ausnahmesituation und für uns alle etwas Neues und womöglich gar etwas Aufregendes. Da kann es leicht passieren, dass man den allgemeinen Appeal der persönlichen Erfahrungen womöglich überschätzt. Beobachtungen zu Zoom-Therapiestunden, Social-Distancing-Einkauf im Supermarkt, Amazon-Frustshopping und dem richtigen Händewaschen haben wir alle live selbst angestellt – und sie auch schon in einer Reihe von Filmen direkt nach den Lockdowns aufgearbeitet bekommen (ein herausragendes Beispiel: der Goldene-Bär-Gewinner „Bad Luck Banging Or Loony Porn“).

    Carole Bethuel
    Im Lockdown hat man endlich mal wieder Zeit zum Lesen – oder direkt die ganze Bibliothek neu zu ordnen.

    Wenn Assayas da jetzt mit einigen Jahren Abstand noch mal nachlegt, sollte er also besser schon neue oder zumindest weitergedachte Ideen zu der ganzen Corona-Lockdown-Schose mit im Gepäck haben. Aber solche sucht man in „Suspended Time“ eher vergeblich. Eine Diskussion über die Risikoabwägung beim Milchkauf ist da noch am spannendsten – weil gleichermaßen nachvollziehbar wie absurd: Sollte man die Milch wie alle anderen Einkäufe erst einmal drei Stunden draußen stehen lassen, um mögliche Corona-Erreger auf der Packung absterben zu lassen. Oder erhöhen die drei ungekühlten Stunden nicht im Gegenteil so sehr die Chance von Salmonellen und anderen Bakterien, dass die Kühlschrank-Vorteile die Covid-Risiken übertrumpfen?

    Aber überraschenderweise fallen diesmal auch die bildungsbürgerlichen, zur Hälfte aus purem Namedropping bestehenden Kunstdiskurse bei einer Flasche Wein, in Filmen wie „Zwischen den Zeilen“ ansonsten durchaus eine Stärke des Regisseurs, enttäuschend flach aus. In Assayas‘ Kreisen werden auch im Lockdown Stummfilme statt Netflix geschaut – aber so viel Interessanteres hat das „Suspended Time“-Quartett deshalb trotzdem nicht zu erzählen. Was bleibt ist ein schön-mäandernder, natürlich hervorragend besetzter Hangoutfilm unter französischer Sonne. Das kann man schon gut weggucken, aber in der Filmographie des Regisseurs wird diese verspätete Covid-Analyse trotzdem nur eine Nebenrolle spielen.

    Fazit: Für Olivier Assayas war die Corona-Pandemie – wie für die allermeisten von uns – ein absolut einschneidendes Erlebnis in seinem Leben. Aber von außen betrachtet, ist seine spezielle Lockdown-Erfahrung einfach nicht besonders interessant.

    Wir haben „Suspended Time“ im Rahmen der Berlinale 2024 gesehen, wo der Film als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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