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    60 Minuten
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    60 Minuten

    Handfeste Martial-Arts-Action – aus Deutschland!!!

    Von Lutz Granert

    Auch wenn sich Keanu Reeves und Scott Adkins in „John Wick: Kapitel 4“ ausgiebig durch einen fiktiven Berliner Techno-Club prügeln, besitzen komplett in Deutschland produzierte Actionfilme noch immer Seltenheitswert – ebenso wie ausladende Martial-Arts-Sequenzen, die eine aufwändige Stuntchoreografie erfordern. Abgesehen vom einsamen Studio-Experiment „Plan B – Scheiß auf Plan A“ standen hierzulande Low-Budget-Projekte wie „Atomic Eden“ (2015) unter der Beteiligung vom Thüringer Stuntman Mike Möller, der kürzlich in einer stummen, aber denkwürdigen Nebenrolle in „Expendables 4“ mitwirkte, lange Zeit allein auf weiter Flur. Ein Malus, um den vermutlich auch „Tribes Of Europa“-Serien-Schöpfer Philip Koch weiß.

    Erst 2022 gründete er seine eigene Produktionsfirma NOCTURNA Productions – und setzt nun gleich mit seinem ersten Filmprojekt ein Ausrufezeichen im deutschen Prügel-Genre: Gemeinsam mit Regisseur Oliver Kienle („Die Vierhändige“) entwickelte Koch das Drehbuch zum ebenso hieb- wie trittfesten Actionthriller „60 Minuten“, der nun direkt im Streaming-Angebot von Netflix erscheint. Viele Ideen der mit reichlich Gangster-Klischees angereicherten Verfolgungsjagd quer durch Berlin wirken zwar aus US-Vorbildern zusammengeklaubt – aber: Handwerklich überzeugen die Stunts und Choreografien auch wegen eines Martial-Arts-erfahrenen Casts rund um Emilio Sakraya („Rheingold“) auf ganzer Linie!

    Netflix
    Wie in „John Wick 4“ wird sich auch in „60 Minuten“ durch einen Berliner Techno-Club geprügelt!

    Ausgerechnet am Geburtstag seiner Tochter Leonie (Morik Maya Heydo) bekommt der Mixed-Martial-Arts-Kämpfer Octavio Bergmann (Emilio Sakraya) nach zwei Terminverschiebungen endlich seine Chance, sich im Käfig gegen Robert Benko (Aristo Luis) zu beweisen. Doch Leonies Mutter (Livia Matthes) setzt Octavio unmittelbar vor dem prestigeträchtigen Kampf ein Ultimatum: Ist er nicht in einer Stunde auf der Geburtstagsfeier seiner Tochter, entzieht sie ihm das Sorgerecht. Octavio lässt alles stehen und liegen, um rechtzeitig da zu sein. Da für seinen Manager Paul (Dennis Mojen) und Gangster Chino (Paul Wollin) eine Stange Geld (und wegen illegaler Wetten sogar das eigene Leben) auf dem Spiel stehen, heften sie sich mitsamt ihrer Schergen an seine Fersen...

    Was folgt, ist eine atemlose Hatz – angefeuert von einem hauchdünn geratenen Plot, der von Koch und Kienle halbherzig mit vorhersehbaren Wendungen und reichlich Gangsterfilm-Klischees angereichert wird. So darf auch eine geheimnisvolle, im Hintergrund die Fäden ziehende Verbrecherorganisation nicht fehlen. Octavios stetiger Begleiter ist ein Knopf im Ohr, mit dem er zwischendurch Textnachrichten empfängt oder Anrufe entgegennimmt (aufgelöst mit Split Screens). Währenddessen tickt der eingeblendete digitale Timer inklusive Echtzeit-Standortbestimmung in bester „24“-Manier erbarmungslos herunter – mehr Dynamik geht inszenatorisch kaum.

    Emilio Sakraya rockt die Kampfszenen

    Die Scharmützel mit Schusswaffen und handfesten Prügeleien zwischen Wedding und Neukölln finden nicht nur auf offener Straße in filmisch bislang wenig erschlossenen Häuserschluchten rund um den Prenzlauer Berg statt. Auch ein Café, in dem Octavio eine bestellte Geburtstagstorte abholen will, sowie eine mit Neonlichtern ausgeleuchtete Disco („John Wick: Kapitel 4“ lässt grüßen) dienen als Schauplätze des technisch versierten Action-Marathons. Weil aber irgendwann auch Octavio selbst merkt, dass er es wohl eh nicht mehr in den 60 Minuten zur Geburtstagsfeier schaffen wird, verliert das titelgebende Echtzeit-Gimmick jedoch zunehmend an Bedeutung.

    Die Choreografien der zuweilen ganz schön brachial und blutig ausfallenden Kämpfe, in denen verschiedene Martial-Arts-Stile zum Einsatz kommen, sind komplex – und der blondierte Emilio Sakraya, der in seiner Jugend tatsächlich Deutscher Karate-Meister war, meistert sie mit Bravour. Schauspielerisch wird er darüber hinaus allerdings kaum gefordert. Bei dünnem Nervenkostüm bleiben dem daueraggressiven Zeitgenossen nur Dialoge voller Flüche und Beleidigungen. Das lässt ihn wegen Beamtenbeleidigung folgerichtig (wenn auch nur kurz) auf dem Rücksitz eines Polizeiwagens landen, bevor er weiter durch Berlin rennt, fährt und prügelt. Trotzdem ist er ein Sympathieträger – weil alle anderen Charaktere mit bemühten Anleihen an Hollywoods Gangsterfilm-Vorbilder noch tumber und reißbrettartiger gezeichnet sind.

    Netflix
    Emilio Sakraya war früher deutscher Jugendmeister im Karate – und das merkt man seiner Martial-Arts-Performance auch an!

    Dennis Mojen („Traumfabrik“) wirkt als schmieriger Manager mit Goldkettchen enorm unbedarft, während Paul Wollin („Dogs Of Berlin“) als zudringlich-zwielichtiger Gangster die schlimmsten Dialogzeilen aufsagen muss: „Zeig’ diesem Wichser einfach, dass wir hier ficken in Berlin und nicht wichsen, mh?“ Neben Emilio Sakraya überzeugt in den Martial-Arts-Szenen vor allem die Berlinerin Marie Mouroum, die als Stuntfrau auch schon in „Avengers: Infinity War“ und „James Bond 007: Keine Zeit zu sterben“ mitwirkte – als Octavios kongeniale Sparringspartnerin hätten wir gerne noch mehr von ihr gesehen, aber ihre Screentime fällt dann leider doch arg knapp aus.

    Fazit: „60 Minuten“ ist roh, zuweilen etwas hölzern und schielt ohne eigene Ideen stark nach Hollywood. Aber – und das ist ein großer ABER: Die Martial-Arts-Action kann sich handwerklich absolut sehen lassen.

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