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    Limbo
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Limbo

    Alle paar Meter lauert ein Höllenschlund

    Von Christoph Petersen

    Sein neuer Auftrag führt Travis Hurley („The Mentalist“-Star Simon Baker) in eine heruntergewirtschaftete ehemalige Bergbaustadt irgendwo im australischen Outback. Hier soll er sich noch einmal mit dem Fall einer bereits vor 20 Jahren verschwundenen indigenen Teenagerin beschäftigen, der damals nicht aufgeklärt werden konnte. Zunächst fährt der Senior-Ermittler des Morddezernats dabei noch mit einem modernen Wagen in der staubigen Gegend herum. Aber weil dieser schon in der ersten Nacht aufgebrochen und so stark beschädigt wird, dass erst neue Ersatzteile aus der Großstadt bestellt werden müssen, bleibt ihm als Leihwagen nur der alte schwarze Dodge, den der Schrottplatzbesitzer notdürftig für ihn fahrbereit macht.

    Spätestens mit dem Oldtimer-Dodge hat der Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „Limbo“ von Ivan Sen dann auch alle Zutaten zusammen, die man sich von einem handfesten Film-noir erwartet. Da gibt es den selbst ziemlich abgewrackten Cop, der seinen eigenen Sohn seit Jahren nicht gesehen hat und sich vor dem Schlafengehen Drogen spritzt. Bei den Ermittlungen will zunächst niemand den Mund aufmachen, aber dann verliert man bei dem verworrenen Fall doch schnell die Übersicht, nur um im selben Moment zu erkennen, dass es sowieso viel eher um die Bestandsaufnahme einer desolaten Gesellschaft geht. Diese findet hier zudem noch Ausdruck in den Schwarz-Weiß-Bildern der zerfurchten und zerlöcherten Landschaft, welche die nach Opalen schürfenden Bergbaubetriebe derart desolat zurückgelassen hat.

    Spätestens mit seinem neuen alten Dodge wird aus Travis Hurley (Simon Baker) ein archetypischer Noir-Ermittler.

    Eingecheckt wird im titelgebenden „Limbo Motel“, das mit seinen in einem ehemaligen Stollen aus dem Stein gehauenen Zimmern zwar eine ziemlich coole Tourismusattraktion sein könnte, in der außer dem Ermittler aber niemand anwesend zu sein scheint. In einer der christlichen Predigten, die ständig aus Travis‘ Autoradio plärren, geht es ebenfalls um die Limbo genannte Vorhölle, einen Ort, an dem sich erst noch entscheiden muss, ob die hier Ausharrenden tatsächlich auf ewig im Fegefeuer schmoren müssen, oder doch noch von Christus errettet werden. Da drängt sich der Eindruck regelrecht auf, dass die omnipräsenten Löcher, die alle paar Meter von den Opal-Grabungen zurückgeblieben sind, tatsächlich Eingänge ins Höllenreich sein könnten.

    In diesem Bild wäre der offensichtlich gläubige Travis eine Art Jesus-Figur. Aber die Erlösung bringt er nicht etwa, indem er nun nach 20 Jahren doch noch den Fall aufklärt. Dieser hat zwar viel Schmerz und Zerstörung über die bereits von den Bergwergschließungen stark gebeutelte Gemeinschaft gebracht – vor allem auch durch die halbherzigen Ermittlungen offensichtlich schwer rassistischer Polizisten, die einfach nur möglichst schnell irgendeinen jungen nicht-weißen Mann hinter Gittern sehen wollten. Doch die Heilung ist nur anders möglich – und so befragt Travis zwar Zeug*innen und besucht für das Verbrechen potenziell bedeutende Schauplätze, aber er wäscht auch bei der Schwester der Verschwundenen ab oder nimmt sich für sie ihren Neffen zur Brust, der seit Wochen nicht mehr zur Schule gegangen ist.

    Die Hoffnung lauert im Abgrund

    Das ist die zentrale Stärke von „Limbo“. Er lädt die harschen Schwarz-Weiß-Bilder einer desolaten Gesellschaft und einer noch desolateren Landschaft nicht mit noch mehr Tod und Verderben, sondern zunehmend mit einer unerwarteten Achtsamkeit der Figuren füreinander auf. Den Dodge fährt Travis zwar fast bis zum Schluss, aber nach diesem anfänglichen Noir-Peak entfernt sich „Limbo“ dann doch immer weiter von den Regeln seines Genres: Statt wie es sich für einen „richtigen“ Film der Schwarzen Serie gehört, wo die Protagonist*innen regelmäßig von einem menschlichen Abgrund in den nächsten stolpern, um schließlich mit der absoluten Schlechtigkeit der Gesellschaft konfrontiert zu werden, ist hier eher das genaue Gegenteil der Fall.

    Mit zunehmender Spieldauer öffnen sich langsam die Angehörigen und sonstige Zeug*innen, die nach der damaligen Erfahrung lieber 20 Jahre lang geschwiegen haben. Aber nicht die Indizien, die so ans Tageslicht kommen, sind von Bedeutung, sondern das vorsichtige Vertrauen, das da langsam (und ohne den geringsten Anflug von Kitsch) wieder aufgebaut wird. Aber wie sich hier kaputte Menschen und Familien in einer kaputten Gesellschaft in oft nur ganz kleinen, beiläufigen Momenten gegenseitig unter die Arme zu greifen beginnen, das macht ausgerechnet ein insgesamt eben doch niederschmetternden Film-noir zum vielleicht zärtlichsten Film des diesjährigen Berlinale-Wettbewerbs.

    Fazit: Ein Outback-noir, der auf Spannungsmomente nahezu komplett verzichtet, dafür aber auf eine stille Weise tief berührt und das Publikum am Schluss – aller bestürzenden Erkenntnisse zum Trotz – sogar mit einem Funken Optimismus aus dem Kinosaal entlässt.

    Wir haben „Limbo“ im Rahmen der Berlinale 2023 gesehen, wo der Film in den offiziellen Wettbewerb eingeladen wurde.

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